Die Tragödie von Erfurt: „Amerikanische Verhältnisse?“

Die Tragödie von Erfurt: "Amerikanische" Verhältnisse? © Will Porada/Unsplash
Die Parallelen zwischen dem Massaker am Gutenberg-Gymnasium und den Hinrichtungen an der Columbine High School in Colorado vor drei Jahren sind unbestreitbar.

Von der Redaktion

In der Bestürzung über die entsetzliche Bluttat an dem Erfurter Gutenberg-Gymnasium wurde sehr schnell gefragt, ob man sich in Deutschland nunmehr auf „amerikanische Verhältnisse“ einstellen müsse. So grausam und unfaßbar die Ereignisse in Erfurt auch sind, scheint der Vergleich mit Amerika in einer Hinsicht zu hinken. Im Jahr 2000 gab es in der ganzen Bundesrepublik mit ihren mehr als 80 Millionen Einwohnern 352 Todesfälle, die auf den Gebrauch von Schußwaffen zurückzuführen waren. Zum Vergleich: Im gleichen Jahr gab es allein in der Stadt New York mehr als 500 Fälle dieser Art, landesweit ging die Zahl in die Tausende.

Und dennoch: Mit dem Gemetzel in Erfurt, den „Hinrichtungen“ nach einer Sitzung des Stadtrates in Nanterre bei Paris und dem Angriff im vergangenen Sommer auf den kantonalen Regierungssitz im schweizerischen Zug scheint das Gewaltphänomen den Atlantik überquert zu haben. Kurz nach Bekanntwerden der Erfurter Gewalttat fragte Bundesinnenminister Schily, „was in der Gesellschaft los ist, wenn ein junger Mensch solches Unheil anrichtet und solche Aggression entwickelt“.

Die Parallelen zwischen dem Massaker am Gutenberg-Gymnasium und den Hinrichtungen an der Columbine High School in Colorado vor drei Jahren sind unbestreitbar. In beiden Fällen waren die jungen Schützen auf Rache aus, ihr Vorgehen war vorsätzlich und gut geplant. Der Schluß liegt nahe, daß dem Erfurter Attentäter das Columbine-Ereignis bekannt war und daß er es, ob bewußt oder unbewußt, nachahmen wollte. Ist das die finstere Seite der medialen Globalisierung, die international das Drehbuch für Nachahmungstaten in unsere Wohnzimmer liefert?

Für Thomas Platz, Leiter des Zentrums für seelische Gesundheit im Landeskrankenhaus des österreichischen Klagenfurt, können auch die Ereignisse vom 11. September und die ständigen Berichte über Selbstmordattentäter im Nahen Osten eine Rolle gespielt haben. „All das führt zu einer Überflutung der Jugendlichen mit Gewalt und Terror, die nicht mehr verkraftbar ist“, so Platz (Welt am Sonntag, 28. April 2002).

„Amerikanische Verhältnisse“ in der Unterhaltungsindustrie gibt es hierzulande schon lange. Obszöne, menschen- und werteverachtende Texte und Bilder bearbeiten Tag für Tag durch Musik, Videos und Computerspiele die ungefestigte Gedankenwelt unserer Kinder und Jugendlichen. So ist es nicht überraschend, daß wie schon die Amokläufer von Colorado auch der Gewalttäter von Erfurt in seiner Freizeit gewaltverherrlichende Computerspiele, Filme und Musik konsumierte. Die laute Forderung, der gewaltsame Inhalt von Fernsehfilmen und Computerspielen müsse verboten werden, wird zwar nach der Erfurter Tragödie wieder einmal heiß diskutiert werden, aber in unserer freien Gesellschaft schlußendlich am „Recht“ des einzelnen Bürgers auf die ungehinderte individuelle Persönlichkeitsentfaltung scheitern.

Wird es nur beim Entsetzen bleiben? In einem Land, in dem die Bürger stolz auf ihre Freiheiten sind, ist es nämlich kaum möglich, das persönliche Verhalten vorzuschreiben. Vonnöten sind deshalb solche Maßstäbe, die nicht von oben herab für alle diktiert, sondern von innen heraus aus Überzeugung von allen praktiziert werden. Seit dem 26. April sind unsere Beiträge über den Einfluß der Medien (Seite 4 bzw. 8) aktueller denn je geworden. Lesen Sie auch den Artikel über Jugendgewalt auf Seite 10.

– Gute Nachrichten Mai-Juni 2002 PDF-Datei dieser Ausgabe

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